Mittwoch, 22. Dezember 2010

Eindrücke von Anthony Steffan

Wir schreiben Samstag, den 4. Dezember 2010.

Gegen 18 Uhr trifft der Round Table Hilfskonvoi für die Ukraine aus Hanau kommend zum Zwischenstop bei den Tablern von Round Table 204 in Dresden ein. Es gibt Dresdner Stollen, Kaffee, selbstgebackene Plätzchen und hausgemachte Kartoffelsuppe sowie Radeberger Pilsner. Alle haben mit angepackt, dass es ein herzliches Willkommen wird. Der Amtsleiter des Dresdner Jugendamts, Herr Lippmann, und der Vize-Präsident von Round Table Dresden, Christopher Jöhren, begrüßen die Konvoi-Teilnehmer mit herzlichen Worten, danken für das persönliche Engagement und wünschen viel Glück und Erfolg für die Reise.

Nach einer Stunde des Erholens und Austauschens sowie der Stärkung des leiblichen Wohls ist Aufbruch angesagt. Hans-Wolf Colsman und Anthony Steffan steigen zu - auch für sie geht es es jetzt endlich los - in noch nie gesehene Lande - zu neuen Sphären - zu unbekannten Menschen. Der Horizont soll erweitert werden.

Die Tabler sind eine große Familie. Obwohl die Neuzugestiegenen kaum einen Mitfahrer persönlich kennen, schenkt man sich gegenseitig großes Vertrauen, wechselt offen die Worte, die gute Sache im Herzen verbindet - und macht aus Menschen Freunde.

Die Nacht läßt die Konvoi-Teilnehmer nicht viel von der wahrscheinlich schönen Wegstrecke sehen und so zieht Polen an den meisten schlafend, dösend, musikhörend und natürlich auch fahrend vorüber. Alle paar Stunden wird gewechselt. Die Fahrer sollen stets erholt am Steuer sitzen. Drei Vierzigtonner und drei Sprinterbusse beherbergen alle Teilnehmer und die 12.000 Weihnachtspäckchen, die alsbald in den Händen der glücklichen Kinder ein Plätzchen unter dem Weihnachtsbaum finden werden.

Am Sonntag Morgen macht der Tross dann halt. Frühstücken in einer Tankstelle am Wegesrand ist angesagt. Füsse vertreten, frische Luft einatmen, die Toilette besuchen, Zähne putzen, Gesicht waschen, der eine oder andere raucht sein Zigarettchen. Das tut gut. Viel Zeit ist nicht, es muss weitergehen. Aufsitzen heißt die Devise.

Endlich sieht man auch einmal etwas von der Landschaft. Die weiße Pracht hat sich überall breit gemacht. Ein tolles Bild, wie alles glitzernd an einem vorüberzieht. Draussen hat es bis zu -19 Grad Celsius. Die Straßen sind in Polen gut ausgebaut und ordentlich geräumt, so geht es gut voran.

Gegen Mittag erreicht der Konvoi
die polnisch-ukrainische Grenze. Jetzt wird es spannend. Eine kilometerlange, in sich ruhende Lastwagenschlange erstreckt sich gen Horizont. Die Fahrer tummeln sich auf der Strasse, der eine oder andere hat sich ein Feuer gemacht, zum Teil wird auch am Fahrzeug gearbeitet, bei einigen älteren Fahrzeugen sind die Dieselleitungen eingefroren. Alte Lumpen werden angezündet und die Leitungen angewärmt. Unsere Vierzigtonner reihen sich artig am Ende der Schlange ein, die Sprinter fahren an den Grenzübergang vor.


Ein kurzes Gespräch mit der Zöllnerin, ja wir sind ein Hilfskonvoi und haben die entsprechenden Papiere dabei.
Bis jetzt ist alles unkompliziert. Ein kurzer Funkspruch an die wartenden Lastwagen, dass auch sie vorkommen können. Da kommt plötzlich Leben in die Schlange. Die schon Stunden oder Tage wartenden Fahrer wollen es nicht wahr haben, dass einfach so jemand ausschert und bis nach vorne durchfährt. Um diesem unwirschen Treiben Einhalt zu gebieten, fahren sie ihre schweren Züge in unsere Gasse. Jetzt heißt es erklären, erklären, erklären. Wir haben Geduld und Glück und alsbald kehrt Einsicht ein und wir können wieder fahren.

Der polnische Grenzübergang macht keine großen Probleme und im Nu befinden wir uns vor den Toren der Ukraine. Jetzt wird Maksim gebraucht, er spricht die Landessprache und weiß auch, wie die Menschen hier "ticken".
Mit wenigen Zeichen und einem kalten Blick winkt uns der ukrainische Zöllner heran. Maksim und Tommy, unser Konvoi-Leiter, haben uns vor der Grenze instruiert. Funkstille, Lächeln, genau das befolgen, was der Zöllner sagt. Nicht mehr und nicht weniger. Alle sind konzentriert. Maksim springt draussen herum, vom einen zum anderen Wagen, er übersetzt. Die Sprinter sollen parken. Die Fahrer sammeln alle Pässe ein und gehen zu einem kleinen Häuschen. Auch alle anderen sollen aussteigen. Gesagt, getan.

Abwartend, was passiert, stehen alle draussen vor dem Zöllnerhäuschen. Ein eisiger Wind weht, ein jeder friert und hat sich eingemummelt. Keiner spricht etwas. Da erklingt die mächtige Stimme des Zöllners. Er ruft einen Namen. Einen von uns. Doch ausgerechnet der eine ist nicht da! Unruhe kommt auf. Der ukrainische Zöllner wartet, er läßt nicht mit sich reden, erst diese eine Person, dann die nächste. Eisige Momente, Stille, Sekunden fühlen sich wie Stunden an. Der hilfesuchende Blick in das Zöllnerhäuschen wird nicht erwidert. Er schweigt. Und schaut. Mit kalten Augen. Auge in Auge. Ich muss wegschauen.

Endlich kommt der Gesuchte. Er streckt seinen Kopf durch das kleine geöffnete Fenster dem Zöllner entgegen. Dieser schaut. Auf das Gesicht, in den Pass, auf seinen Bildschirm. Er vergleicht. Sein Blick sagt nichts Gutes. Man könnte meinen, er genießt diese Unsicherheit, die er seinem Gegenüber beschert. Plötzlich klappt er den Pass zu und schmettert ihn mit einer routinierten, wohl jahrelang zelebrierten Handbewegung in die Kante zwischen dem Fensterrahmen und dem Sims. Er sagt nichts. Maksims Stimme erklingt: "Nimm Deinen Pass und geh ins Auto." So wiederholt es sich viele Male - bis alle begutachtet sind. Nach einer Stunde ist für die Sprinterbesatzungen der Spuk vorbei und wir stehen auf ukrainischem Grund und Boden. Ein Café unweit des Grenzübergangs gewährt uns Ruhe, Erholung und bietet heisse Getränke feil. Der eine oder andere stillt seinen Hunger mit einem Borschtsch.

Sieben Stunden später kommen auch die Vierzigtonner aus dem Zoll. Endlich. Die Sprinter-Besatzung hat durchweg im Café verharrt. Schlafend, essend, Musik hörend, trinkend, schwatzend, schreibend.Wir waren wohl die besten Kunden seit langem. Enrico hat den beiden Ukrainerinnen hinter der Theke gezeigt, wie man einen original italienischen Kaffee macht. Das haben die beiden bestimmt auch noch nicht erlebt. Hand in Hand - so geht es am einfachsten.

Nachdem sich die Lastwagenbesatzungen gestärkt haben geht's weiter. Draussen ist es inzwischen rabenschwarz. Die Nacht hat uns wieder. Bei Temperaturen um -10 Grad Celsius gefrieren die Fahrzeugscheiben von innen. Die Strassen haben sich unmittelbar nach der Grenze deutlich verschlechtert, sie sind nicht nur vereist, sondern auch der Gesamtzustand läßt sehr zu wünschen übrig. Flickenteppiche, Schlaglöcher, alles was das Herz (nicht) begehrt. Man vermag nicht zu sagen, ob man eine Autobahn oder eine Nebenstrasse befährt.

Das hat wohl auch dazu geführt, dass das Navigationsgerät, dem alle blind vertraut haben, den Überblick verloren hat - im Zweifel auch ob des Gerüttels. Eine ausgiebige Sightseeing-Tour durch ukrainische Dörfchen gab ihr bestes. Selbst der weiße Vierzigtonner fand Gefallen an der ungeplanten Spritztour und wollte gar nicht zurück auf große Strassen. Er blieb kurzerhand des Nachts in einer engen Kurve mit seinem Auflieger in einem Schneehaufen hängen. Mit vereinten Kräften schiebend und ziehend, schaukelnd und wippend konnte er zum Weiterfahren ohne fremde Hilfe bewegt werden.

Montag Morgen, Frühstückszeit.

In einer ukrainischen Dorfgaststätte überraschen wir den Wirt und seine Helferinnen mit einer Konvoiladung hungriger Mäuler. Maksim verhandelt und übersetzt, er teilt allen mit, was es zu Essen gibt. Es kann nicht für alle das Gleiche geben - mangels Vorrat. Dünne, aber leckere Schnitzel in Ei paniert oder zwei bis drei kleine Fleischhappen sowie Pommes, hausgestampfter Kartoffelbrei und Krautsalat machen die hungrigen Mädels und Kerle satt und zufrieden.

Eine Stunde später bewegt sich der Konvoi wieder. Die Sonne versteckt sich hinter den Wolken. Dennoch kann man die Landschaft geniessen. Es ist sehr ländlich. Idyllisch. Pferdefuhrwerke passieren den Weg. Handkarren werden geschoben. Oma und Opa sitzen am Strassenrand vor ihrem Anwesen. Daneben parkt ein gelb-beiger Wolga, die Wäsche hängt zum Trocknen im Garten. Blaue Häuschen säumen die Fahrtroute. Ob es diese Farbe wohl einmal besonders günstig zu kaufen gab?

Wir kommen auf eine Fernstrasse. Die große Weite kehrt ein. Schneebedeckt bietet sich das ebene Land an. Der kalte, trockene Wind zersaust die Frisur, sobald man den Wagen verläßt. Die roten Weihnachtspäckchenkonvoi-Jacken machen sich bezahlt. Ihr schwarzer, pelzähnlicher Kragen hält den eisigen Wind fern. Wohlige Wärme verwöhnt Hals und Nacken. Auf der Gegenspur stehen zwei Lastwagen. Einer hat auf seinem Auflieger noch Platz. Der Grund erschließt sich bald. Er hat seine Ladung verloren. Sein Container liegt auf der anderen Seite im Strassengraben. Wie er das bloß gemacht hat?

Gegen Mittag sind es noch 350 Kilometer bis zum Ziel. Odessa, Stadt in der Ferne. Mehr als 1800 Kilometer hat der Konvoi schon zurückgelegt. Die Strasse kennt nun stellenweise auch etwas Berg und Tal. Die Tabler sind müde. Die meisten schlafen. Die zu Beginn der Reise noch reichlich vorhandene Gesprächsbereitschaft ist auf das Nötigste reduziert. Auch der Funk bleibt meist still.

Am frühen Abend dann das Ortsschild von Odessa. Geschafft - oder auch nicht. Über fast nicht mehr zumutbare, geschweige den befahrbare Strassen geht es direkt zum Zoll. Alle Lastwagen müssen begutachtet und die Hilfsgüter entzollt werden. Eine Stunde sind die LKW-Fahrer beim Zoll, dann steigen sie in die Sprinter zu. Auf direktem Weg geht's zur Delku, der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche der Ukraine in Odessa. Dort werden wir erwartet von Andreas, dem ortsansässigen, deutschsprachigen Pastor, unserem Gastgeber. Die Kirche lacht uns beim Einbiegen in die Strasse schon mit ihrer schönen Beleuchtung an. Eine kleine Sonne, eine Oase des Friedens, der Ruhe und Besinnlichkeit.

Eine Stunde wird uns gewährt. Für's Ankommen, Einchecken, Frischmachen. Da ist Eile geboten. Ein Teil der Konvoi-Teilnehmer ist auf dem Gelände der Kirche untergebracht, ein anderer Teil fährt zu einem kleinen Hotel. Das Doppelzimmer zu 350 Grivna die Nacht, das sind 35 Euro. Die Ausstattung ist sehr einfach, aber es hat alles, was man braucht. Das Schönste ist die Dusche - nicht wegen ihrer Extravaganz - sondern weil endlich wieder heisses Wasser über unsere Körper rinnt.

Gewaschen, geschniegelt und gebügelt finden sich alle beinahe pünktlich an der Kirche ein. Das Abendessen steht bevor. Andreas hat einen Tisch reserviert. Zu Fuß geht es 15 Minuten quer Feld ein durch die Stadt, dann sind wir da. Ein gemütliches, gepflegtes Restaurant mit Speisen aus der Region lädt zum Verweilen ein. Jeder bestellt, nach was ihm ist. Vorneweg gibt es Wareniki - ukrainische Teigtaschen, gefüllt mit Fleisch, Kartoffeln oder Pilzen, serviert mit Schmand und gerösteten Zwiebeln. Dazu kühles, leckeres, ukrainisches Bier. Andreas begrüßt uns offiziell und richtet mit seiner Rede sehr bewegende, nahegehende Worte an uns. Er möchte bewußt machen, wie besonders es ist, dass alle heute Abend zusammengekommen sind. An diesem Ort. In dieser Stadt. Er bedankt sich dafür, dass sich ein jeder die Zeit und die Strapazen auf sich genommen hat. Er sagt, das sei nicht selbstverständlich. Nach ausgedehnter Mahlzeit geht es nach Hause. Die heiss ersehnten Betten warten auf uns. Wer zwei Tage nahezu ohne Unterbrechung auf ausgefeilten Lastwagensesseln gekauert hat, weiss ein einfaches Bett zu schätzen.

Dienstag Morgen, 8 Uhr. Die Konvoi-Teilnehmer treffen in der Kirche ein. Frühstück mit Lagebesprechung. Der Zoll hat die Hilfsgüter noch nicht freigegeben. Ärgerlich. Trotz der guten Vorbereitung. Also erst einmal abwarten, Kaffee und Tee trinken. Andreas bietet eine Morgenandacht einschließlich Führung durch die Kirche an. Sehr interessant. Die Kirche ist in einem hervorragenden Zustand, die Orgel erstrahlt in bestem Glanz und das Design des Interieurs ist von schlichter, klarer Eleganz. Ein schöner Ort - zum Nachdenken.

Kurz vor dem Mittag geht's in die Stadt. Der regionale Fernsehsender und die ortsansässige Presse haben um 12 Uhr zur Pressekonferenz geladen. Alle sind mitgekommen. Tommy und Lutz - unsere Hauptorganisatoren - Karin Strenz - Mitglied des Deutschen Bundestages - der Bischof und Andreas stehen den Medien Rede und Antwort. Es läuft gut. Später findet Tommy einen ausführlichen Beitrag im regionalen Fernsehen. Sehr schön. Nach getaner Arbeit geht es zurück zur Kirche. Auf dem Weg wird in einem Steak House das Mittagessen genossen. Preise wie im Westen - Qualität, Inneneinrichtung und Service aber auch. Der Nachmittag vergeht ohne erhoffte Neuigkeiten vom Zoll. Nichts hat sich getan. Die Stunden ziehen sich in die Länge. Die Helfer sitzen bei Tee und Christstollen im Gemeinderaum. Der eine oder andere fällt seiner Müdigkeit zum Opfer. Die Mütze ins Gesicht gezogen verweilt er schlafend in seinem Stuhl. Am späten Abend ist klar, dass es heute nichts mehr wird. Andreas kommt vorbei und kümmert sich um seine Schäflein. Einige werden in die Stadt gehen, das abendliche Treiben in Odessa erkunden, Hans-Wolf und Anthony wohnen der Bibelstunde von Andreas bei. Eine interessante Erfahrung. 15 Zeilen Bibeltext reichen für gut 90 Minuten Dialog. Und es ist spannend. Andreas macht seine Arbeit aus Berufung. Früher war er einmal Maschinenbauingenieur. Gut, dass er es sich noch einmal überlegt hat. Er hat wirklich ein großes Herz. Mit vielen schönen Gedanken im Kopf geht es in die Daunen.

Mittwoch, 8. Dezember.

Eine genaue Aufstehzeit wurde nicht festgelegt, da nicht klar ist, wann die Hilfsgüter den Zoll verlassen dürfen. So geht der Morgen gemächlich an. Gegen Mittag immer noch keine neue Wasserstandsmeldung. Verärgerung und Ratlosigkeit zeichnet die Gesichter der engagierten Helfer. Stunde um Stunde verstreicht. Einige gehen die Stadt erkunden. Für zwei Stunden. Dann sollen sie wieder da sein, falls es Veränderungen gibt. Odessa hat sich viel von seinem Charme bewahrt. Das große Geld für neue Häuser war wohl nicht da, auch nicht für Restaurationen. So zeigt die Stadt ihr ehrliches Antlitz aus vielen alten Gebäuden. Strassenzug um Strassenzug. Die wenigen, die es zu etwas gebracht haben, grenzen sich sichtbar von der Menge ab. Mit schweren, prestigeträchtigen Geländewagen und Limousinen mit großen V8-Motoren gleiten sie durch die unebenen Kopfsteinplasterstrassen. Erhaben, als ob sie nicht dazu gehören würden. Arm und reich sind hier weit auseinander. Ein Markthalle ist von Ferne zu sehen. Am Strassenrand ein russischer Lastwagen, die hinteren Türen zum Laderaum geöffnet. Die Sonne lacht hinein. Drinnen sitzen vier Ukrainer - um die 50 Jahre jung - auf Stühlen an einem Tisch und spielen Karten. Sie sind auf sich konzentriert, vom Geschehen auf der Strasse bekommen sie nichts mit. Wir gehen vorüber und treten in die Markthalle ein.

Nach dem Öffnen der alten Türen erreicht sofort ein bunter Strauss an Gerüchen unsere Nasen. Fleisch, Fisch, Käse, Butter, so weit das Auge sehen kann. In langen Gängen zeigen die Bauern ihre hausgemachten Produkte den interessierten Kunden. Kaum geht man an einem Stand vorüber, erklingt schon eine Stimme und lädt zum Probieren ein. Schnell werden wir als Nicht-Einheimische entlarvt und ein jeder wirbt um unsere Gunst. Eine Bäuerin spricht uns auf französisch an. Wie sich später in einem kleinen Gespräch herausstellt, ist sie Mitglied einer ukrainisch-französischen Gesellschaft. Deutsch und englisch vermag sie nicht zu sprechen, aber in französisch geht's. Sie verwöhnt unsere Gaumen mit frischen Crepes und hausgemachter Crème fraiche. Unfassbar lecker. Alles ist frisch. Alles ungekühlt. Der deutsche Veterinärmediziner würde sich im Grabe umdrehen. Um uns herum tanzen Hunde und Katzen, die auch auf einen feinen Happen hoffen. Das reichhaltige Angebot und die angenehme Darreichungsform wie auch die Qualität der feilgebotenen Waren öffnet auch unser Portemonnaie. Schnell sind frische Gurken, Karotten, Rosinen, Granatäpfel, Honig, Käse und wohlduftende, getrocknete Pilze in unseren Taschen verschwunden. Glücklich - auch ob des Erlebnisses - geht es zurück zur Kirche.

Noch immer hat sich nichts getan. Unfaßbar! Was kann und muss noch getan werden, damit es endlich voran geht? Maksim ist unentwegt am Telefonieren. Andreas nutzt seine Kontakte. Tommy organisiert. Gegen 18 Uhr ist das Faß voll. Tommy läßt Aufsitzen. Alle sollen zum Zoll. Jetzt wird Präsenz gezeigt! Die Ukrainer sollen merken, dass es so nicht weitergeht! Zwei Stunden verharren wir vor und im Zollgebäude, dann endlich kommt Bewegung in die Sache. Andreas' Klimmzüge haben Wirkung gezeigt. Endlich, nach zwei Tagen des Hoffens, Kämpfens und Wartens ist es soweit: Unsere Lastwagen sind entzollt! Jetzt kann's losgehen! Jetzt kann die Reise ihr eigentliches Ziel erreichen! Motiviert geht es zurück zur Kirche, lachende Gesichter sind in den Fahrzeugen zu sehen. Der Abend klingt zeitig in einem gutbürgerlichen Brauhaus bei hausgemachten Würsten und Bier aus. Am nächsten Morgen ist früh Tagwacht, es bleibt nur ein Tag für die Verteilung der 12.000 Pakete. Tommy, Lutz und Maksim haben drei Touren zusammengestellt. Um 7 Uhr soll es losgehen.

Donnerstag Morgen, noch ist es dunkel.

Alle Mannen sind pünktlich auf, das Gepäck ist sauber verstaut. Zügig geht es zu den Vierzigtonnern, die auf einem bewachten Parkplatz die Nacht verbracht haben. Jetzt heißt es umladen. 20 Minuten müssen für die Menschenkette reichen, um alle Pakete richtig zu verstauen. Jede Tour bekommt einen Sprinter und einen Lastwagen. Dann geht's endlich los. Die Nordtour fährt erst einmal auf die E95 gen Norden Richtung Ananiew. Nebel liegt noch über der Autobahn. Sichtweite 50 Meter. Die Sonne braucht noch ein wenig heute. Nach einer Stunde verlassen wir die Autobahn, jetzt geht es über Land weiter.

Die Strassen werden zunehmend abenteuerlicher. Wir müssen Tempo herausnehmen, der Lastwagen muss die Schlaglöcher und Pfützen sorgfältig umfahren - so gut es geht. Einige Male halten wir an und Valentina, die auf dieser Tour unsere Dolmetscherin ist, fragt die Einheimischen nach dem Weg. Sie sind sehr hilfsbereit. Meist zeigen sie uns den Weg, in dem sie ein Stück voraus fahren.

Unser erstes Ziel ist in Sicht. Ein Internat mitten auf dem Lande. Einige hundert Meter entfernt ist Wochenmarkt. Hund und Katze begegnen sich auf der Strasse, Gans und Huhn überqueren die Wiese, Pferdefuhrwerke parken am Strassenrand. Im Garten sitzt der Hofhund, neben dem Lada hängt die Wäsche an der Leine. Jeder hat hier sein kleines Häuschen mit Garten. Lutz und Valentina gehen in das Internat und melden uns an. Wenige Minuten später sind sie mit der Direktorin und einer Horde Kinder und Jugendlicher an der Strasse. Jetzt kann abgeladen werden. Die Kinder erahnen wahrscheinlich schon, was sich in den großen Umkartons, die wir in Deutschland sorgfältig gepackt haben, verbirgt. Schnell sind viele helfende Hände am Lastwagen und tragen eifrig jedes einzelne Päckchen davon, das heruntergereicht wird. Alles läuft gesittet und ordentlich ab. Die Lehrerinnen und die Direktorin haben die Schüler im Griff. Ein klares Wort genügt. Artig werden die Päckchen im Schulgebäude sauber aufgeschichtet. Alle sind stolz, dass die mithelfen können. Rasch haben einige hundert Pakete ihre Bestimmung gefunden. Gerade die Kleinen laufen mit großen, leuchtenden Augen und einem breiten Grinsen umher. Einfach haben sie es hier, aber ordentlich. Jeder kennt jeden. Es menschelt. Neid ist nicht zu sehen. Alle sind gemeinsam glücklich. Manchmal beschleicht einen der Gedanke, ob wir in den sehr gut entwickelten Ländern wirklich so viel mehr haben. Sicherlich, an materiellen Dingen schon. Aber hier draussen laufen die Uhren anders, langsamer. Man hat Zeit füreinander. Man kennt sich. Man hilft sich. Alle müssen zusammenhalten, damit bei den wenigen Mitteln auch jeder etwas abbekommt. Solidarität wird hier groß geschrieben.

Kaum ist die erste gute Tat vollbracht, schon holt uns die Bürokratie wieder ein. Die Anzahl der Päckchen, die übergeben werden, muss sauber dokumentiert und von der Direktorin mit einem Stempel und ihrer eigenhändigen Unterschrift bestätigt werden. Alles muss überprüfbar sein. Es kann auch nicht ein jeder kommen und einfach Weihnachtspäckchen abgeben. Die Schulen sind zur Annahme dieser Päckchen nur berechtigt, wenn eine entsprechende Genehmigung der übergeordneten Behörde vorgelegt werden kann. Erstaunlich auch, wie sehr sie sich daran halten.

Diese erste Station war für die Konvoi-Teilnehmer sehr wichtig. Erst ab diesem Punkt hat die Tour ihr Ziel erreicht, hat sich für alle das erfüllt, wofür sie aufgebrochen sind und für was sie sich eingesetzt haben. Toll, dass wir es geschafft haben! Allen fällt ein Stein vom Herzen. Den ganzen Tag über geht es nun über's Land auf die kleinen Dörfchen, die große Kreisstadt Balta frohlockt mit 16.000 Einwohnern. Schule um Schule, Kindergarten um Kindergarten, Internat für Internat wird mit der passenden Anzahl an Weihnachtspäckchen versorgt. Unermüdlich werden die Pakete aus dem Lastwagen gereicht. Helfende Hände sind immer zugegen. Wunderbar.

Eine unserer letzten Stationen erreichen wir in der Dunkelheit. Die Direktorin erwartet uns schon. Ganz in schwarz gekleidet mit einem ebenso schwarzen Hut und dunkler Brille mit abgetönten Gläsern steht sie in der Türe - Tränen in den Augen. Sie kann es nicht fassen. Über 30 Jahre kämpft sie sich durch für ihre Schüler und ihre Schule. Jeden Cent muss sie zusammenhalten, es ist so wenig da. Über 200 Kinder betreut sie hier. Viele davon sind Waisen, einige haben überhaupt keine Verwandschaft mehr. Die Wirtschaftskrise hat ihr übriges getan, die Mittel sind gekürzt, wenn nicht gar gestrichen worden. Vor wenigen Tagen hat sie endlich neue Schultische bekommen. Die großen Schüler sind schon eifrig am Montieren - wie wir selbst sehen können.

Nach getaner Arbeit bittet sie uns in ihr Zimmer an einen großen, langen Tisch. Sie möchte mit uns reden. Sie erzählt von einer Schule in England. Bristol heißt die Stadt. Jedes Jahr im Sommer kommen Schüler zu Besuch. Kontaktdaten hat sie keine, aber ein Fotobuch hat sie rasch zur Hand mit herzlichen Grüßen aus Bristol und einem Dankeschön für die wunderbaren Tage. Die Welt ist so klein. Unter uns ist Martin, ein Tabler aus England, er wohnt in Bristol. Eifrig wird sich nun ausgetauscht, was er in Zukunft wohl für die Schule tun kann und wie der Kontakt intensiviert werden kann. Round Table in seiner reinsten Form. Kurze Wege, helfende Hände, unbürokratisch, menschlich, verbindlich. Auf die Frage, was am dringendsten benötigt wird, wenn sie sich etwas wünschen dürfte, antwortet sie mit "Seife, Zahnpasta und Zahnbürsten". Die Kinder haben das zwar, aber viel zu wenig davon, so dass alles penibel eingeteilt werden muss.

Mit diesen letzten Sätzen im Geiste fahren wir durch die Nacht nach Hause. Betroffen, nachdenklich, glücklich über das, was wir schon geschafft haben - und merkend, wie gut es uns in Wirklichkeit geht.

Nächstes Jahr kommen wir wieder. Natürlich. Eine Kerze ist entzündet - in einem jeden unter uns.

Anthony

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